Impressionen

Fotos © Dagmar Schweickert

Kino-Varieté

Zollhaus/Rhein-Lahn, 21. August 2020

Alte Zeiten zum Leben erweckt: Stummfilmabend verzaubert mit Musik und Akrobatik

Was für ein wundervoller Abend:  Ausverkauftes Haus gab es beim Kino-Varieté im Kreml Kulturhaus in Zollhaus. Stummfilme mit Livemusik, Wortakrobatik, Jonglage und berührende Blicke zurück in die Vergangenheit der Region begeisterten die Menschen, die am Wochenende den „Orientzauber auf dem Lande“ erlebten.

Das von Arte entwickelte und auf die Region zugeschnittene Projekt überzeugte mit seiner gelungenen künstlerischen Mischung.

Die Veranstaltung fand im Rahmen des Dialogs Aar-Einrich statt. Und so dankten  zur Begrüßung VG-Bürgermeister Harald Gemmer und der künstlerische Leiter Matthias Frey nicht nur Nina Goslar von der Filmredaktion ZDF/ARTE, die das Programm maßgeblich mitgestaltet hatte, sondern auch den Förderern, durch die diese besondere kulturelle Veranstaltung möglich wurde: Die Veranstaltung des Dialog Aar-Einrich wurde über die LEADER AG Lahn-Taunus, von der Europäischen Union (ELER-Mittel) und dem Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz gefördert. Landrat Frank Puchtler überreichte außerdem bei der Begrüßung im Namen der Wirtschaftsförderung Rhein-Lahn einen Zuschuss über 1000 Euro.

Pünktlich zum Abschluss der offiziellen Eröffnung hatte die Dämmerung eingesetzt und die vielen Zuschauer, die coronakonform und unter freiem Himmel im „Amphitheater“ Platz genommen hatten, ließen sich für Stunden verzaubern: Die  regionale „historische Wochenschau“ erinnerte an längst vergangene Zeiten in der Region Aar-Einrich: Vom Schlittenfahren über Feuerwehrfeste bis zum Heimatfest gab es einen außergewöhnlichen Bilderreigen zu bestaunen. Das Bildmaterial war zusammengestellt worden von Volker Satony, Werner Mohr sowie der Burgschwalbacher Firma „Design und Media“ und begeisterte die Zuschauer.

Auch der 1914 entstandene Film „ Lahntal, Bad Ems“ des Kamera-Pioniers Oskar Barnack sorgte für viele überraschende Einblicke: Die Mode, die Hüte, das unverbaute Ufer der Lahn – das Publikum kam aus dem Staunen angesichts der Impressionen des mondänen Kurorts vor über hundert Jahren kaum heraus. Zum Schmunzeln war anschließend der Kurzfilm „Der arabische Zauberer“ aus dem Jahr1906, der sich als origineller und amüsanter Werbespot für Kupferberg entpuppte.

Die Stars den Abends, die all diese sehenswerten Einzelstücke zu einem großen Genuss verbanden, waren dabei unbestritten der Moderator und die Musiker: der Berliner Jongleur und Wort-Akrobat Marcus Jeroch hatte das Publikum mit seinem Wortwitz und seiner Jonglagekunst im Handumdrehen um den Finger gewickelt. Die Livemusik sorgte stimmungsvoll, auf den Punkt und unvergleichlich virtuos für die passende Untermalung: Das Gramm Art Project mit Julian Gramm (Gitarre) und Thomas Bugert (Kontrabass) und Duo Cantabile mit Lilian Jacob (Violine) und Ursula Herrmann (Akkordeon) bereicherten die historischen  Kinoschätze auf grandiose Weise. So wurde schließlich auch der Hauptact des Abends, der 66minütige Silhouettenfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed” von Lotte Reiniger erst durch die Livemusik wahrhaft zum Leben erweckt – die Zuschauer waren beeindruckt von diesem – für damalige Zeiten –  technischen Meisterwerk, das sie eine Welt der Märchen und Sagen entführte und freuten sich, diese besondere Kulturveranstaltung miterlebt zu haben.

Der Silhouettenfilm “Die Abenteuer des Prinzen Achmed” von Lotte Reiniger feierte 1926 in Berlin Premiere und gilt als erster abendfüllender Animationsfilm.
Wenn man bedenkt, dass jede der agierenden Figuren in allen ihren Gelenken beweglich sein muss … so kann man sich eine Vorstellung da­von machen, welch ein Wunderwerk hier geleistet ist. Aber auf das Technische allein kommt es ja nicht an, die Hauptsache ist, dass der Geist des Märchens hier in der filmischen Bilderfolge aufs Glücklichste neu geboren ist und dass die Welt orientalischer Wunder… mit den Mitteln einer an türkischen und japanischen Vorbildern geschulten Silhouettenkunst neu geschaffen ist.” (Vorwärts vom 9.5.1926)

Der Wortakrobat: Marcus Jeroch (Berlin) – Sprache und Artistik.

Jonglierte Kisten verwirbeln Buchstaben, hin zum dramatischen Gedicht, fehlende Buchstaben verwandeln einen Text in Erinnerung, und kaum geschehen, bringt eine verwegene Performance mit Hula-Hoop-Reifen, Jojo und Pingpongbällen das Publikum zum Staunen.

Marcus Jeroch ist Akt und Moderator zugleich, ein Hasardeur der Sprache und Bewegung, ein Sinnjongleur – regelmäßig engagiert im Tigerpalast Frankfurt, im Hansatheater Hamburg oder im legendären Chamäleon-Varieté. Der Krystallpalast Leipzig zählt ebenso zu den Adressen seiner Varieté-Karriere wie das Apollo in Düsseldorf, das Palazzo in Freiburg und andere mehr. Daneben war und ist er auch in zirzensischen Ausnahmeprojekten wie bei „Gosh“ oder „Zirkus ohne Elefanten“: Hyyrä und Hyrrä Tytö! zu sehen.  Marcus Jeroch ist Varieté! https://marcusjeroch.de/variete

Das Gramm Art Project mit Julian Gramm (Gitarre) und Thomas Bugert (Kontrabass) kombiniert bei seinen Stummfilmkonzerten historische Kinofilme mit jazzig-avantgardistischer Klanggestaltung. Jedes Filmkonzert ist ein neues, einmaliges Erlebnis, bei dem Liebhaber des klassischen Lichtspiels ebenso auf ihre Kosten kommen wie Musikfans. Seit 2017 vertonen die beiden Profimusiker des Gramm Art Projects klassische Stummfilme, neben den  “Abenteuern des Prinzen Achmed” auch Filme von Friedrich Wilhelm Murnau. https://www.grammartproject.com/

Das Duo Cantabile ist nicht nur in seiner Besetzung mit Violine und Akkordeon in der Region außergewöhnlich. Lilian Jacob (Violine) stammt aus Rumänien und fand in Ursula Herrmann (Akkordeon) eine kongeniale Partnerin, mit der er aufgrund anfänglicher Sprachbarrieren ausschließlich über Musik kommunizierte. Aus diesem Dialog ist nun ein festes Duo entstanden, das neben Klassik auch Tangos und zahllose Evergreens im Repertoire hat.

Das gesamte Programm entstand in Zusammenarbeit von Dialog Aar-Einrich (Matthias Frey) mit der Filmredaktion von ZDF/ARTE in Mainz (Nina Goslar).